Radio Review

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Jetsam – Radio zu den g8 Protesten 2007

Der Anlass Der G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 animierte die sog. Antiglobbewegung zu ihren mehr oder weniger rituellen Protesten. Am Rande der Mobilisierung gegen den Gipfel fand sich im Laufe verschiedener Medienaktivismus-Treffen eine Gruppe von einem Dutzend Menschen zusammen, deren gemeinsames Ziel es war, die Proteste mit einem Informationsradio zu begleiten. Sie nannten ihr Projekt Jetsam (engl. Treibgut). Der Name sollte Programm sein: unberechenbar, zerstreut, schnell und kritisch. Nur einige aus der sich bildenden Gruppe hatten zuvor länger in einem Freien Radio Erfahrungen gesammelt. In diesem Sinne waren viele Fragen offen und man konnte sich mit Neugierde und Offenheit gemeinsam dem Medium Radio bzw. einem Radiostream im Internet nähern. Wichtig war dabei von Anfang an ein größtmöglicher Spielraum in Fragen der Programmstruktur und der Inhalte (um auf die Ereignisse und Situationen der Proteste eingehen zu können), deshalb wurde Jetsam von Anfang an unabhängig vom Radioforum geplant, das sich an den Sendestrukturen und Ansprüchen Freier Radios orientieren sollte. So konnten im Projekt Jetsam auch grundsätzliche Fragen über Sinn und Funktion eines die Proteste begleitenden Radios gestellt und diskutiert werden. Außerdem verstand sich Jetsam von Beginn an als Bestandteil des Independent Media Centre in Evershagen und brachte dieses mit den anderen Gruppen gemeinsam auf den Weg.

Bewegungskritisches Aktionsradio ?! Wichtiger Bestandteil der Vorbereitung waren mehrere längere Gruppentreffen, bei denen es viel Raum zur Diskussion gab, auch um die verschiedenen politischen Positionen und Erwartungen der einzelnen zu thematisieren. Von den verschiedenen linken und linksradikalen Standpunkten aus (antiglob bis antideutsch) versuchte man sich anzunähern und ein Radiokonzept zu entwerfen, welches auf Grundlage der eigenen Ansprüche über die Proteste gegen den G8-Gipfel informiert und gleichzeitig kritisch kommentiert. Das grundsätzliche Interesse an den G8-Protesten der Einzelnen bei Jetsam speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. Die Massenproteste gegen den G8 wurden innerhalb Jetsams, genauso wie innerhalb der radikalen Linken, kontrovers diskutiert. So gab es einige bei Jetsam die die Massenmobilisierung gegen den G8 grundsätzlich politisch schwierig bis falsch fanden, aber dennoch Interesse daran hatten, die Motive und politischen Begehren der Protestierenden zu thematisieren. Andere bei Jetsam fanden die Massenmobilisierung gut, da sich dort die Kräfte bündeln, Netzwerke aufgebaut und die 'eigenen Inhalte' sichtbar gemacht werden können. In diesem Spannungsfeld entwickelte sich Jetsam zu einer temporären Redaktion die Interesse daran hatte, sich inhaltlich auseinander zu setzen. Weiterhin wurde sich in der Vorbereitungsphase darauf geeinigt, dass es bei Jetsam grundsätzlich erwünscht ist, Kritik an Aktionen oder Gruppenpositionen innerhalb der Proteste zu äußern, sofern diese nationalistische, antisemitische, antiamerikanische, rassistische oder sexistische Tendenzen aufweisen. Dies klingt zunächst nach leeren Worthülsen, war aber für die Konstitution der Gruppe wesentlicher Bestandteil. Für einen Radioansatz auf der Suche nach einer emanzipatorischen Perspektive in den Gipfelprotesten war gerade die solidarische Kritik wichtig.

Is there anybody out there? Als Hörer_innen stellte sich Jetsam eine ähnlich gemischte Gruppe vor: Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an den Protesten haben und sich Informationen beschaffen wollen, um mitzubekommen und zu verstehen was in Heiligendamm und Umgebung passiert. Aber gleichzeitig wollte Jetsam nicht ausschließlich ein 'Szeneradio' werden. Deswegen versuchte Jetsam Szenejargon zu vermeiden und zudem in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Regelmässig wurde in englisch, aber auch in französisch und spanisch, manchmal sogar in polnisch oder schwedisch gesendet. Das war möglich durch die oftmals spontane und engagierte Mitarbeit von internationalen Medienaktivist_innen während der Proteste.

Technisch war Jetsam vor allem ein Internetradio. Durch die Kombination verschiedener Opensource-Software war ein Streaming programmiert wurden, das auch bei Kabel- oder Netzproblemen selbstständig die Verbindung am Laufen hielt. Durch Unterstützer_innen, die Server als Relays im Internet zur Verfügung stellten, enstand ein Netzwerk, das das Programm von Jetsam durchgehend übertrug und verteilte. Der Link war über Indymedia leicht zu finden und zeitweise nahmen über 200 Rechner den Stream ab. Außerdem war Jetsam auf den Camps in der Umgebung von Heiligendamm zu hören und stieß gerade dort auf eine interessierte und auf leicht zugängliche Informationsquellen angewiesene Hörer_innenschaft.

Rückmeldungen derer, die Jetsam hörten und sich per Mail meldeten waren durchweg postiv. Das äusserste sich besonders in Sätzen wie "Um mir ein Bild zu verschaffen, habe so oft wie möglich euer Radio-Programm verfolgt." Das lässt auch darauf schließen, dass die Hörer_innen Jetsam als eine weitere Informationsquelle nutzten, als eine Art hörbare Indymedia, was eine durchaus interessante Perspektive für das Medium Internetradio darstellt.

Informationen – Desinformation Jetsam hatte mit der Feststellung begonnen, dass es für Hörer_innen bei so unübersichtlichen Ereignissen schwierig ist, an umfassende Informationen über den Verlauf der Proteste, aber auch über den Stand der Repression, zu kommen. Deswegen wollte Jetsam versuchen, stündlich im Nachrichtenformat abgesicherte Informationen zur Verfügung zu stellen und abends eine grosse Zusammenfassung des Tages zu bringen. Schwierig wurde es, zwischen der atemlosen Gleichzeitigkeit und dem hohen Produktionsdruck einerseits und der Notwendigkeit von Diskussionen über die sprachliche Verfasstheit und Auswahl von Nachrichten andererseits ein Gleichgewicht zu finden. Durch den Austausch und die Erfahrung verbesserte sich das Programm im Laufe der Protestwoche: es wurde mehr kontextualisiert, die Informationsquellen (Korrespondent_innen, indymedia-dispatch, Mainstreampresse etc.) wurden sorgsamer verarbeitet und sprachlich wurde sich sensibler ausgedrückt. Die enge Zusammenarbeit mit anderen Medienaktivist_innen im Rahmen des Independent Media Centre, die gemeinsame Informationsbeschaffung und Berichterstattung im Sinne von Indymedia, war eine wichtige Basis für die Informiertheit von Jetsam.

Ansprüche vs. Machbarkeit Wichtigster Bestandteil des Programms waren die vielen zeitnahen Lifeinterviews mit Korrespondent_innen, Leuten 'vor Ort' und Organisator_innen der Aktionen, mit Rechtsanwält_innen vom Republikanischen Anwaltsverein, dem Ermittlungsausschuß u.a.. Dies ermöglichte es oftmals, ein differenziertes Bild von den verschiedenen Orten und Stationen der Proteste zu zeichnen, wichtige Hintergrundinformationen schnell zu erfragen und weiterzugeben und Ereignisse in den Gesamtverlauf einzuordnen (etwa zum Einsatz von Repressionsmitteln durch Polizei und Justiz und der Reaktion der organisierten Anwälte darauf). Trotz des erklärten Ziels, auch über kleinere und dezentrale Protestaktionen zu informieren, blieb die Berichterstattung gerade auch in diesem Punkt lückenhaft. Ein besser vorbereitetes und ausgebautes Korrespondent_innennetz wäre angesichts der relativen Unübersichtlichkeit der Situationen hilfreich gewesen. Auch wenn Jetsam hauptsächlich live sendete, wurden regelmäßig Hintergrundberichte von Radioforum und freie-radios.net übernommen, die auch die kritische Auseinandersetzung mit Gegebenheiten des Protests vertieften. Meinungverschiedenenheiten über das Gesendete blieben innerhalb von Jetsam nicht aus, aber sie blieben immer in einem für alle diskutierbaren Rahmen. Auch im Trubel der Ereignisse versuchte Jetsam immer wieder ausführlich miteinander zu sprechen und sich abzustimmen. Das wurde durch die räumliche Trennung (Medienzentrum in Evershagen und Außenstudio auf dem Camp Reddelich) und die verschiedenen Aufgabenbereiche erschwert. Auch die Spezialisierung einiger auf bestimmte (technische) Aufgaben schien in der Eile mal wieder nicht zu verhindern, obwohl es ein wichtiges Anliegen für Jetsam war und ist, dass alle Beteiligten sich sowohl technisch als auch inhaltlich einarbeiten und einbringen.

Während der Auswertung wurde ein Fragekatalog zusammengestellt, der den Umgang mit Information und Sprache im Rahmen eines aktionsorientierten Inforadio reflektiert. Diese Reflektion ist 'work in progres' und auf Anfrage freut sich über Interesse und Anregung.


Jetsam war ein Experiment Bei jetsam ist aus Radioperspektive in vielerlei Hinsicht etwas Neues ausprobiert worden: Das Radiokollektiv war eine offene Gruppe, die aber Wert auf eine gemeinsame inhaltliche Vorbereitung gelegt hat, Inhalte aus dem Indymedia-Dispatch wurden ständig aufgegriffen und aufbereitet, das Programm war multilingual, mit der Haltung 'von Aktivist_innen für Aktivist_innen' wurde klar Position bezogen und gleichzeitig war es ein Schwerpunkt, mit der Situation, mit Sprache und Information kritisch und überlegt umzugehen.

Jetsam wusste vorher nicht, auf was es es sich einlässt und ist jetzt um einiges klüger. Jetzt ist Jetsam Flotsam, ruht am Strand, fragt sich was wohl unterm Strand liegt und reflektiert die wilde Strömung der Ereignisse um Heiligendamm. In welche neuen (Radio)projekte die gesammelten Erfahrungen und Reflexionen einfließen werden, wird sich zeigen.

[Eine Zusammenstellung der wichtigesten Liveinterviewmitschnitte kann auf jetsam@nadir.org angefordert werden. Das ist auch die richtige Adresse für Fragen und sonstige Überlegungen.]